Die U-Bahnen sind knallvoll. Überall sieht man diese dreieckigen Helme, mal akribisch mit Neongaffer-tape plus LED-Beleuchtung gebastelt, mal primitiv aus Altpapier und Kreppklebeband zusammengeklatscht. Junge Leute, in derer Clique noch nicht alle Bier kaufen dürfen, ein paar Fans an der Hand von Mutter oder Vater mit Dreieckshelm in Kindergröße und jede Menge People um die 30, die der Band wohl seit Beginn an ihre Treue halten, strömen an der Station „Westfalenhallen“ angekommen, zum ausverkauften Konzert.
VJ Wasted bringt vor Showbeginn einen herrlichen Mix an interessanten Clips auf die kolossale Leinwand, die die Bühne noch verhüllt und man darf sich über die Würdigung des verkannten Kunstmediums Musikvideo freuen.
Das schlagartige Ausknipsen aller Beleuchtung entfacht natürlich fetten Jubel, aber was wir nun zu sehen bekommen, bricht die Erwartungshaltung von „Jetzt geht’s gleich ab!“ sowas von. Poetische Flugaufnahmen von Wasserfällen, schutzbedürftig dreinblickende Seerobben und einsame Motorradcruiser auf Wüstenlandstrichen, unterlegt mit einer mächtigen epischen akustischen Sphäre im Ethno-Stil, muten fast sakral an. Dieses angestimmte Melodrama wird gebrochen, indem sich bei konstant bleibender Akustik nach Minuten plötzlich wackelige Camcorder-Aufnahmen aus ranzigen Backstageräumen einschieben. „Das ist ja Buddy mit seiner herrlichen Plautze!“ Mein nicht mehr aktives Lieblingsbandmitglied hat mir in genau diesem Anzug aus mit Knicklichtern verzierten Müllsäcken, damals von der Bühne aus Jägermeister in den Mund geschüttet. Das ist ja jetzt auch schon wieder… 10 Jahre her? Was?! Oh nein, ich werde rührselig. Nach meinem eher als mittelmäßig befundenen Review ihrer aktuellen Platte (Link: http://www.schallhafen.de/index.php/reviews/517-deichkind-nww-review.html) und meiner Skepsis gegenüber der Richtung, die die Entwicklung ihres Livekonzepts eingeschlagen hat – eher weg vom Spontanen – kriegen sie mich jetzt so? Historisierende Archivbilder, die sich unglaublich komisch und gleichzeitig melancholisch in ein Hochglanz-Koyaanisqatsi einbetten?
Drei Silhouetten mit pink strahlenden Dreieckköpfen schimmern durch die Leinwand und der erste Release „So ’ne Musik“ im Missy Elliot-Style von „Niveau Weshalb Warum“ startet mit wuchtigem Bass. Die Leinwand fällt nach den ersten Zeilen in sich zusammen, das Deichkind-Trio tritt erst jetzt auf und ihre drei Mitperformer, auf die man den Eröffnungsapplaus hat projizieren lassen, bleiben reglos stehen: Klar gesetzte Bilder und eine göttliche Lichtdramaturgie gehören zum neuen Bühnenkonzept.
Wie toppt man den kolossalen Kindergeburtstag der letzten Liveshows – ist da überhaupt noch Luft nach Oben? Deichkind legen keine Schippe drauf, sondern verhalten sich abgeklärter. Abriss- und Exzesssignale von Lyrics und Beats stehen oft im Kontrast zu minimalen, aber präzisen Bewegungschoreografien der Herren, die mit ihren futuristischen Anzügen und den wechselnden Sci-Fi-Kopfbedeckungen immer etwas androidenartig daherkommen. Diese meist fokussierten, bedachten Bühnenhandlungen – wie etwa eine Minimal-Choreographie mit Schreibtischstühlen und Sonnenschirmen oder das standbildartige Posen während eines kompletten Songs, der eigentlich abgeht – verhalten sich merkwürdig verquer zu den immer durch eine Folie der Ironie zu betrachtenden Songinhalten. Irre flirrend nimmt das Raumschiff Deichkind für die nächsten zwei Stunden Fahrt auf.
Deichkind sind keine Popband mit nur einer Hand voll Hits, sie hatten in ihrer kompletten Wirkungszeit hohe Präsenz in den Medien und auf unzähligen Shows und das nutzen sie jetzt hier für sich. Das räumliche Dreieck muss nur kurz aufleuchten und es erzählt schon alles über das Exzessive, das wir mit ihnen in Verbindung bringen. Da braucht keiner mehr auf einem Trampolin turnen und dabei mit Bier spritzen – die Hüpfburg in unserem Kopf wird schon mit den ersten verzerrten Synthesizerklängen von „Limit“ für alles Innere freigegeben.
Die Show hat mich so gepackt, dass ich plötzlich bejahenden Zugang zu neuen Songs fand, die ich vorab als Füller abgetan hatte. In „Naschfuchs“ heißt es „Candy gegen Kummer – Bubblegum und Fanta – Popcorn gegen Panik- Gummibären statt Ganja“ und diese Zeilen sprachen in dem Moment für mich den Zustand einer Gesellschaft an, die Realität ohne Substanz will – die Zeit der nikotinfreien E-Zigarette ist angebrochen. Der Nachbar der um Punkt 22 Uhr im Kurt Cobain-Shirt vor der Tür steht und einem erklärt, dass er die Bässe trotzdem nebenan hört, obwohl der Fernseher nicht laut ist, steht für die neue Mittelschicht.
Ferris MC überquert mit einem Scooter ungelenk die Bühne, muss immer wieder bremsen und neu anfahren. Dieser Scooter als Sinnbild eines gesellschaftlichen Tabus, ein Fahrzeug, das mit adipösen Menschen in Verbindung gebracht wird, über die wir uns heute wohl zurecht kein öffentliches Urteil mehr bilden, thematisiert auch etwas, was im Deichkind-Überthema „Hedonismus“ immanent ist. Wie weit lassen wir uns fallen, werden passiv und unselbstständig? Pathologisch oder voll okay?
Und so verschränkt sich durch die verschiedenen künstlerischen Medien viel Assoziatives in ihrer Liveshow und damit auch im Kopf.
Die Band bewegt sich nicht als erlebnispädagogische Maßnahme durchs Publikum, damit alle einmal dicht dran waren – das Ausschwärmen im Plantschbecken, mit wehenden Fahnen marschierend oder im überdimensionalen Schnapsfass ist ohne großes „Jetzt kommen die Stars zu euch“-Getue im Showrahmen verankert. Besonders schön ist, wenn Kryptic Joe, Porky oder Ferris beim ordentlichen Durchrütteln der Meute mal aus der Routine gerissen werden, ihnen der Beat für Sekunden wegrennt, sie kurz nicht posen können und ein Moment der Desorientierung gefeiert werden kann, der das besondere Liveerlebnis und den Mut Deichkinds unterstreicht.
Deichkind bringen den großen Rundumschlag, sogar „Bon Voyage“ und „Komm schon“ werden in einer Art Medley mit Beats von Dizzee Rascal und Method Man & Redman performt. Dass die komplette Liveebene, was Instrumente betrifft, längst ausradiert wurde, ist etwas schade, jedoch auch verständlich, da die Flexibilität ihres Bühnenkonzepts durch zusätzliche Instrumentalisten eingeschränkt würde. Zumindest bei jenem Part, bei dem straighterer Hip Hop ohne viel Show Thema war, wäre ein wenig DJ-Kunst on Stage gut gekommen.
Deichkinds Zeichensystem verdichtet sich bei der letzten Zugabe „Remmidemmi“. Alle möglichen Requisiten, Flaggen und Gefährte die heute ihren Weg auf die Bühne gefunden haben, tauchen wieder auf und vermischen sich. Das Publikum schreit den Song, der wie kein anderer für die schrille Neuerfindung der Band steht, praktisch allein.
Es ist diese wahnsinnige Streuweite, die das Phänomen Deichkind so besonders macht. Eine riesige Menschenmasse, die privat vermutlich ganz unterschiedlich tickt, vereint sich unter einem symbolischen Dreieck und dreht gemeinsam durch.
Dass sich eine Band mit Haltung, Zeitgeist, gutem Humor und Kunstsinn so fett in den hiesigen Mainstream-Strukturen etablieren konnte, gab mir ein kitschig-wohliges Gefühl, als ich eingezwängt in der U-Bahn wieder stadtwärts stand – zusammen mit friedlichen, bierseligen Gesichtern die durch geschrottete Dreieckshelme blickten, verlaufene Neonfarbe am ganzen Körper.
Wer weiß, vielleicht antworte ich, wenn noch einmal zehn Jahre vergangen sind und mich irgendein Taxifahrer auf die Zeit um 2015 anspricht und fragt, was denn nun bitte hier die bedeutendste Liveband jener Zeit gewesen sein soll, mit der Überschrift dieser Kritik.
– Julian Gerhard
Ursprünglich erschienen auf Schallhafen.de